Kalkutta & Varanasi

Dear Lord, the great Healer, I kneel before you, since every perfect gift must come from you. I pray give skill to my hands, clear vision to my mind, kindness and meekness to my heart. Give me singleness of purpose, strength to lift up a part of the burden of my suffering fellow men, and a true realization of the privilege that is mine. Take from my heart all guile and worldliness, that with the simple faith of a child, I may rely on You. Amen.  –  Prayer of the Missionaries of Charity, found in the Motherhouse in Kolkata

Würde dieses Gebet am Anfang eines jeden Tages stehen, wäre die Welt wohl ein besserer Ort …

Mitte Januar war ich zurück in Delhi. Im Gepäck eine ganze Reihe Sevice-Parts und einen nagelneuen Satz Reifen. Dieses Mal war es wieder die Originalbereifung der 1200 GS, die mich auch vergangenes Jahr problemlos von Deutschland bis an die chinesische Grenze brachte.

Es war ein Dienstag Morgen und ausgerechnet an diesem Tag war jene Metro-Line in Delhi gesperrt, die mich durch die Stadt nach Faridabad (South of New-Delhi) bringen sollte. So entschied ich mich, den Bus zu nehmen, um bei BMW meinen 40.000 km Service durchführen zu lassen.

Wie definiert man eigentlich einen voll besetzten Bus? „Voll“ ist sicher relativ und das gilt insbesondere in Indien aber in der Regel passt immer noch ein Passagier mehr hinein. Man steht gelegentlich so eng aneinandergepresst, dass man keine Bedenken haben müsste umzufallen. Als ich den Bus bestieg, ging ich davon aus, dass man wie üblich weiter zusammenrückt und das indische „Kompressionspotential“ noch Luft nach oben hatte. Es stellte sich heraus, dass ich an diesem Morgen mit meiner Annahme falsch lag. Ich stand gerade einmal draußen auf dem Trittbrett als der Bus wieder losfuhr. Den Rucksack mit Ersatzteilen auf dem Rücken, den Helm in der linken Hand, den Satz Reifen in der rechten … die Türen versuchten sich zu schließen … aber da stand ich nun mal … Selbst die hartgesottenen Inder sahen mich nur mit schütteltem Kopf an. Ich denke Ihnen bot sich ein ungewöhnlich bizarres Bild: Ein sich außen am Bus festhaltender „Farang“. Meine Reifen presste ich mit dem rechten Knie gegen den Türrahmen, damit sie nicht verlorengingen … Zugegeben, es gibt bequemere Wege zu reisen.

Der Service bei BMW war etwas gewöhnungsbedürftig. Obwohl man mir äußerst freundlich entgegenkam und mir sogar erlaubte, das Bike über Weihnachten bei BMW in Delhi zu parken, war ich doch etwas überrascht, dass ich mit den Mechanikern eine Auseinandersetzung darüber führen durfte, ob mein Bike nun zwei oder vier Zündkerzen hatte. Ich wusste es waren vier, aber man wollte mich davon überzeugen, dass es nur zwei gäbe … Mich ließ dieser Zwischenfall etwas zweifelnd zurück. Was wusste man nun eigentlich über meinen Boxer und was nicht … ?

Delhi war dieser Tage kalt. Nun wird man in Europa sagen, dass 12-14 Grad im Januar nicht gerade als kalt bezeichnet werden können. Stimmt. Doch es gibt keine Heizungen in den Häusern.  Also noch mal kurz zurück … Wie sieht es also mit 12 Grad abends im Wohnzimmer aus? Oder ggf. nur 10 Grad morgens im Bad? Ich war also nicht sonderlich traurig, Delhi einige Tage später Richtung Süd-Westen wieder zu verlassen.

Über den Verkehr in Indien habe ich mich ja schon zu Genüge ausgelassen und als ich Delhi im dahin kriechenden Stadtverkehr verließ, passierte es dann auch. Ein roter Kleinwagen fuhr mir von hinten in meine GS. Der Aufprall brach unter anderem wieder eine Rückwand der Seitenkoffer. Man, man, man … das kann schon mal an den Nerven zerren.

„Meine lieben Indischen Freunde! Man muss nicht immer drängeln, man muss auch im Stau nicht immer hupen. Das löst weder das Verkehrschaos noch bringt es irgend jemanden wirklich weiter. Und das Konzept eines (wenigstes) minimalen Sicherheitsabstandes hat seine Begründung. Einfach mal darüber nachdenken.“

Der Tag sollte auch in Folge nicht zu meinen Favoriten gehören. Am Nachmittag wurde ich an einer Tankstelle mit Freundlichkeit und Handschlag begrüßt, wobei man bei überschwänglicher Freundlichkeit schon schalten sollte … Ich hab‘ das auch alles schon mehrfach durch und denke, ich weiß mich in der Welt ganz gut zu bewegen. Aber wie gesagt, das war schon nicht mehr mein Tag. Der Tankwart monierte eine meiner 500 Rupien Noten und wollte eine andere. Ich konnte mir zwar nicht gleich erklären, wo ich diesen Schein aufgegabelt hatte, aber auch ich akzeptiere in der Regel keine erbärmlich aussehenden Banknoten. Innerhalb der nächsten halben Stunde musste ich immer wieder an diesen Tankwart denken und versuchte mir zu erklären, wo ich diesen Geldschein erhalten hatte. Dann machte es „Klick“. Das war gar nicht meine Note. Die muss der Gauner getauscht haben. Meine Vermutung bestätigte sich am Abend im Hotel. Es war wie befürchtet eine Kopie und meine sich anschließende Nacht in Kanpur gehört zu den unspektakulärsten überhaupt. Hinter dem Fenstervorhang in meinem wenig atmosphärisch anmutenden Zimmer gab es noch nicht einmal ein Fenster. Ich checkte früh morgens wieder aus. So ärgerlich die Ereignisse des Vortages waren, ich blickte mit Erwartung auf meine Tage in Varanasi.

Die Heiligen Stufen von Varanasi

Varanasi, das sind vor allem die fotogenen Ghats entlang des Ganges. Die Stadt wird auch „the City of Life“ genannt und ist eine der sieben heiligen Städte im Hinduismus. Pilger strömen aus allen Landesteilen zu den Treppen, welche den Ganges säumen, um im heiligen Flusswasser die Sünden ihres Lebens hinwegzuwaschen oder um ihre Verstorbenen an den Ufern des Flusses einzuäschern. In Varansi sein Leben auszuhauchen bzw. auf den Stufen zum Ganges in den Tag und Nacht lodernden Feuern eingeäschert zu werden, bedeutet den ewigen Kreislauf von Tod und Geburt zu durchbrechen und macht diesen Ort zum schlagenden Herzen im Hindu-Universum.

Nicht selten begegnet man auf dem Weg durch die Altstadt Prozessionen mit aufgebarten Verstorbenen. Die Prozessionen führen hinab zum Ganges, wo dem dahingeschiedenem Familienmitglied die letzte Ehre erwiesen wird. Während die meisten Ghats zum Baden genutzt werden, dienen einige wenige der Kremation. Der größte Bestattungsort ist Manikarnika wobei das Ganze allerdings nichts für schwache Nerven ist. Die intimsten Rituale von Leben und Tod werden hier in aller Öffentlichkeit zelebriert und man wird mit unverblümter Sicht Zeuge von Einäscherungen, wobei die Luft vom Geruch und den Klängen einer Feuerbestattung durchtränkt wird.

Von Varanasi machte ich mich auf nach Ranchi. Pranjal hatte mich bereits vor Monaten eingeladen in seinem Haus einzukehren, sollte ich mich auf den Weg machen, West-Bengal zu bereisen. Es war gut ihn wiederzusehen und ich verbrachte mehr Tage in der Stadt und mit seiner Familie als ich ursprünglich vorhatte. Die Familie war gerade in die Hochzeitsvorbereitungen eines seiner Cousins eingebunden. Hochzeiten in Indien sind wirklich kaum mit den unsrigen vergleichbar. Als ich meinte, dass eine Hochzeit daheim bereits mit 80-100 Gästen als „groß“ bezeichnet werden darf, schmunzelte man nur. Hindu-Hochzeiten in Indien involvieren nicht selten 1.000 bis 1.500 Gäste und gefeiert wird in der Regel über drei Tage. Alleine die „intensiven“ Vorbereitungen, bei denen die Familien regelmäßig abends zusammen kommen, können mehrere Wochen umfassen. Man fragte mich, ob ich auch kommen würde und lud mich herzlich ein, bis zu den Feierlichkeiten zu bleiben. Es war eine einmalige Chance, diesem farbenfrohen und bedeutenden Ereignis beizuwohnen. Doch wollte ich die nächsten Tage in Kalkutta verbringen und ließ es vorerst offen, ob ich zur Hochzeit noch einmal nach Ranchi zurückkommen würde.

Das Lebenswerk einer kleinen Frau

Ich weiß nicht, wann ich das erste Mal von Kalkutta gehört habe, aber solange ich denken kann, war der Name der Stadt für mich unweigerlich mit dem Namen „Mutter Teresa“ verbunden. Somit dürfte es auch nicht überraschen, dass mein Besuch in der 15 Millionen Einwohner zählenden Metropole in erster Linie dem Lebenswerk dieser Frau gewidmet war. Ich wollte wissen, sehen und erleben, was diese kleine Frau mit der Kraft ihres Glaubens aufgebaut hat. Ihre beispiellose Aufopferungsbereitschaft, ihre innige Hingabe und ihr kindliches Vertrauen auf die Gnade Gottes lässt vermutlich jeden, der ein Fünkchen Glaube in sich trägt in Erfurcht innehalten. Sie setzte ein Beispiel in ihrer Gemeinschaft, diente im wahrsten Sinne des Wortes und nahm sich selbst immer wieder auch der niedrigsten Aufgaben an. Sie verzichtete auf jegliche Privilegien, die sie in der Gemeinschaft in irgend einer Weise bevorzugt hätten. Vor dieser Form von „Führung“ kann ich mich nur beschämt verneigen.

Sonntag früh um 6:00 Uhr wohnte ich der Morgenmesse im Mutterhaus bei und wurde nach einem Frühstück bestehend aus Bananen, Brot und Chai „Prem Dan“, dem größten Haus der „Missionaries of Charity“ in Kalkutta zugewiesen. Nicht selten bleiben freiwillige Helfer für Wochen oder gar Monate, um die tägliche Arbeit der Schwestern zu begleiten. Die Arbeit ist einfach und bedarf keiner besonderen Fertigkeiten – lediglich ein offenes Herz und die Bereitschaft zu helfen. Täglich wird zu aller erst einmal Wäsche gewaschen, wobei Decken, Hosen und Jacken in großen Becken eingeweicht, von Hand gewaschen und gespült werden. Hunderte von Tassen und Bechern müssen mehrmals täglich gereinigt werden und auch der Hof und die Räumlichkeiten werden entsprechend sauber gehalten. Wer länger bleibt kann mit der Zeit auch andere Aufgaben übernehmen.

Hier werden Menschen gepflegt, um die sich auf der Strasse niemand kümmern würde. Nicht selten leiden diese Menschen an offenen Wunden oder nicht ausgeheilten Verletzungen. Deartige Pflegefälle werden zumeist rund um den Bahnhof „aufgelesen“ und so lange versorgt und mit einfachen Mitteln behandelt, bis sie wieder in der Lage sind, für sich selber sorgen zu können.

Ich verbrachte zwei Tage in „Prem Dan“ und bat danach darum, auch „Nirmal Hriday“, das Haus der Sterbenden kennenlernen zu dürfen. Die Eindrücke werden mir lange in Erinnerung bleiben.

Kalkutta wurde zu der Stadt in Indien, welche mir am besten gefiel. Der Eindruck, den die Stadt auf mich machte, ist sicher eng mit den persönlichen Erlebnissen verbunden, doch auf meinem Weg in die City, fielen mir auch die sauberen Strassen entlang des Victoria Memorial auf, was an sich schon einem charmanten und überraschenden Willkommen gleichkam. Die gelben altmodischen Taxen und eine Straßenbahn taten ihr übriges.

Ich hatte Pranjal bereits angedeutet, dass ich mit den Eindrücken von Kalkutta möglicherweise nicht auf einer Hochzeit tanzen wollen würde und so verließ ich die Stadt schließlich auch in Richtung Süden und kehrte nicht mehr nach Ranchi zurück.

Als ich die Stadt verließ, machte ich noch ein Bild von der „Kolkata-Bridge“. Irgendwo meine ich zuvor einmal gelesen zu haben, dass es nicht gestattet sei, die Brücke zu fotografieren. Doch auf meinem Weg aus der Stadt sind mir keinerlei derartige Verbotsschilder aufgefallen. Es kam was kommen musste. Während ich ein paar Aufnahmen machte stoppte ein Polizeiwagen direkt vor mir. Der Polizist kam auf mich zu, sprach allerdings kaum English. Dennoch konnte ich eins und eins zusammenzählen und meinte, ich könne die Bilder gerne löschen, wenn das ein Problem darstellen sollte. Ehrlich gesagt, erscheint das Ganze als ziemlich unsinnig, da jeder aus dem Auto heraus oder von Booten die Brücke unbemerkt fotografieren kann.

Wie dem auch sei, der Polizist meinte, ich solle ihm zum Polizei Hauptquartier von Kalkutta folgen. WAS ?? Das kam ja nun gar nicht in Frage. Ich hatte noch einen 500 Kilometer langen Ritt nach Puri vor mir und eine kleine Patrolienfahrt zum Polizeirevier basierend auf aberwitzigen Anschuldigungen, würde mich sicher mehrere Stunden kosten. Ich erklärte mich mehrfach, aber der Officer war unverändert der Meinung, dass ich ihm folgen sollte. Wir hatten also eine kleine Auseinandersetzung, die mehr aus Gesten als verständlichen Worten bestand, während ich fleißig weiter auf ihn einredete. Sehr energisch war er nicht und möglicherweise ging es ihm auch nur um etwas Taschengeld. Damit wäre er bei mir nun aber definitiv an der falschen Adresse gewesen. Schließlich nahm ich meinen Helm vom Cockpit, zog die Handschuhe wieder an und startete den Boxer. Dann teilte ich ihm mit, dass ich jetzt fahren würde. Zu meiner eigenen Überraschung hatte mein Verhalten keine weiteren Konsequenzen und ich war auf dem Weg nach Süden.

Der Tag sollte mich noch einmal überraschen. Entlang des Highways sah ich meinen ersten indischen Elefanten. Es war grossartig den Koloss neben meinem Bike zu sehen – und dieses Mal sah meine GS tatsächlich klein daneben aus. Die nächsten drei Tage verbrachte ich in Puri und wollte dann noch eine Nacht im Yogi-Surfer Camp bleiben.

Es war ein Sonntag und bereits später Vormittag. Das Camp lag nur eine halbe Stunde von Puri entfernt und ich hatte somit keine große Eile aufzubrechen. Doch dann kam alles anders. Lokale Dorfbewohner hatten sich zu einem politischen Streik zusammengeschlossen und blockierten die Strasse mit einem Baumstamm. Keiner kam durch. Weder in die eine, noch in die andere Richtung. Ich sprach mit der Polizei, welche offensichtlich vor Ort war, um eine Eskalation der Lage zu unterbinden. Doch es wurde schnell offensichtlich, dass die Polizei hier nicht das Sagen hatte.

Somit versuchte ich den grimmig aussehenden Indern klar zu machen, dass ich im nur 2,5 Kilometer entfernten Camp erwartet würde und bat darum, mich durchzulassen. Doch Freundlichkeit hatte man sich an diesem Sonntag nicht auf die Fahnen geschrieben. Die düster aussehenden Männer ließen Aggressivität durchblicken. Es war schon ein wenig frustrierend, dem Camp so nahe zu sein und es dennoch nicht erreichen zu können. Ich sah auf meine Uhr. Es war kurz vor Mittag und eigentlich viel zu spät, um weiter nach Süden zu reisen. Doch in Puri wollte ich auch keine weitere Nacht verbringen. So rief ich kurzerhand im Camp an und teilte mit, dass ich nicht mehr kommen würde. Dann kehrte ich den streikenden Indern den Rücken und widmete den Rest des Tages weiteren 450 Kilometern auf der Strasse. Diesen Sonntag hatte ich gänzlich anders geplant.

Mit dem Aufbruch nach Süden begann auch die letzte grosse Etappe der Reise: Es wartete der tropische Teil Indiens auf mich, die Teeplantagen von Munnar, die Backwaters von Kerala und ein paar einsamen Strände am Arabischen Meer …