Ein folgenschwerer Zwischenfall

Adventure is a path. Real adventure – self-determined, self-motivated, often risky – forces you to have firsthand encounters with the world. The world the way it is, not the way you imagine it. Your body will collide with the earth and you will bear witness. In this way you will be compelled to grapple with the limitless kindness and bottomless cruelty of humankind – and perhaps realize that you yourself are capable of both. This will change you. Nothing will ever again be black-and-white.   –  Mark Jenkins

This is the end of my trip

Es gab nun seit Wochen kein Update mehr auf dieser Seite aber es gab auch gute Gründe dafür … Manchmal reicht ein Wimpernschlag und die Welt um einen herum erscheint in einem anderen Licht. Am 9 Juli kam es in der chinesischen Provinz Sichuan gleich zu mehreren tragischen Ereignissen.

Es hatte an den Tagen zuvor bereits heftig geregnet und ein Erdrutsch versperrte am Morgen einen Tunnel. Wir warteten bis kurz vor Mittag im Hotel auf die Freigabe, dann machten wir uns auf den Weg in Richtung Chengdu. Mit den Motorrädern passierten wir den blockierten Tunnel noch lange bevor dieser fuer den regulären Verkehr wieder freigegeben wurde.

An diesem Dienstag waren wir zu Viert unterwegs: Jimmy, mein Zimmergenosse, BigJim aus Wales, David aus Australien und ich. Zwei weitere Motorradfahrer unseres Teams waren bereits früher am Morgen aufgebrochen und die beiden 4×4 Trucks in unserer Gruppe sassen noch auf der durch den Erdrutsch gesperrten Strasse fest. Wir passierten mehrere Brücken und Tunnel ohne Probleme. Dann kam es jedoch zu einem folgenreichen Zwischenfall. Kurz nach der Einfahrt in eine Tunnelröhre musste Jimmy – der als erster voraus fuhr – bremsen. BigJim dahinter betätigte seine Bremsen ebenso und ich sah, wie sein Hinterrad auf dem offensichtlich extrem schmierigen Untergrund einen Satz nach rechts machte. Ich drosselte meine Geschwindigkeit und und sah in den Rückspiegel. David fuhr direkt hinter mir und ich nahm noch wahr, wie sein Vorderrad nach rechts driftete und das Motorrad in die Schräglage geriet … im nächsten Moment schoss sein Bike auch schon auf der Fahrbahn rotierend in meine Richtung.

Wir stoppten unsere Bikes vorsichtig und parkten links auf der abgesperrten Fahrbahnhälfte. Dann liefen wir zurück, um nach David zu sehen. Er hatte sich mühsam an den Strassenrand gerobbt. Auf dem Weg zu ihm schalteten wir den immer noch laufenden Motor seines Motorrades aus. Wir sperrten die Fahrbahn und leiteten den Verkehr auf die linke Seite. David war ansprechbar, hatte jedoch erhebliche Schmerzen. Er selbst vermutete, dass sein rechtes Knie und die Hüfte gebrochen seien. Vorsichtig halfen wir ihm auf den Fahrbahnrand.

Es war David, der im vergangenen Sommer auf www.horizonsunlimited.com den Blog startete, um ein Team fuer China zusammenzustellen. Halb auf dem Seitenrand des Tunnels liegend sah er mich an … dann meinte er nur noch: “This is the end of my trip.”

Eine ganze Reihe von Fahrzeugen fuhr vorbei, ohne dass jemand anhielt und Hilfe anbot. Selbst als wir aktiv versuchten, vorbeifahrende Autos anzuhalten, wichen die meisten Fahrzeuge aus. Schliesslich stoppte ein 4×4 und wir fragten die Insassen, ob jemand Englisch spräche. Ein junges Mädchen auf dem Rücksitz nahm die Kopfhörer heraus, wir erklärten unsere Situation und fragten, ob sie auf dem Weg nach Chengdu seien. Als sie bejahte, baten wir darum, David in ein gutes Krankenhaus zu bringen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht halfen wir ihm ins Auto, tauschten die Telefonnummern aus und schickten ihn in Richtung Chengdu.

Nun mussten wir zusehen, dass wir das Motorrad aus dem Tunnel heraus bekamen. Da wir unter strengen Auflagen als Gruppe mit eigenen Fahrzeugen nach China eingereist waren, mussten alle Fahrzeuge auch das Land Richtung Laos wieder verlassen. Während wir im Tunnel auf der Suche nach einem kleinen Lastwagen waren, passierte auch ein Polizeiwagen unsere Unfallstelle. Man sollte jedoch nicht glauben, dass die chinesische Polizei es für nötig erachtet hätte anzuhalten und ggf. Hilfestellung zu leisten. Vermutlich stand davon nichts in der Dienstanweisung der Kollegen und gehörte somit auch nicht zum Tagesgeschäft.

Schliesslich stoppte ein junger Chinese mit einem kleinen Laster und war sofort bereit, uns zu helfen, das Motorrad aus dem Tunnel in Richtung Chengdu zu transportieren. Während wir das Bike zum Verladen vorbereiteten, hörten wir erneut Reifen quietschen … und dann krachte es auch schon heftig. Eine weitere Polizeistreife war in unsere Absperrung geschlittert und hatte dabei einen zur Absperrung dienenden roten Wassertank zerstört. Man stelle sich die Situation einmal vor: Eine Unfallstelle in einem Highway-Tunnel, vier im Tunnel parkende Motorräder, umherlaufende Menschen, umgeleiteter Verkehr und dann eine Polizeistreife, die in die Absperrung der Unfallstelle rauscht … Eigentlich hatte ich erwartet, dass wir spätestens jetzt einige Fragen zu beantworten hätten. Tatsächlich, nachdem der Streifenwagen wieder fahrbereit war, stoppte er noch einmal direkt neben unserer Verladestelle fuers Motorrad. Allerdings waren die Polizisten nicht an uns interessiert. Ein Warnkegel hatte sich bei deren Aufprall unter dem Wagen verklemmt und musste noch vom Unterboden des Streifenwagens befreit werden. Dann waren die Jungs auch schon wieder auf und davon.

Stunden später erfuhren wir, dass David dringend eine OP und eine neue Hüfte brauchte. Um den Prozess zu beschleunigen, nahmen wir noch am gleichen Nachmittag Kontakt zu seiner Versicherung in Australien auf. Dann suchten wir uns eine Bleibe in Chengdu und besuchten David am Abend im Krankenhaus. Er lag im Notfall-Aufnahmeraum und da seine Situation bezüglich des weiteren Vorgehens unklar war, wurde er dort mit einem Dutzend anderer Patienten “zwischengelagert”. Lediglich ein Vorhang trennte ihn von anderen Leidensgenossen. Da wollte keiner von uns liegen … Ihn dort zu sehen, tat mir unendlich leid und ich wusste, dass er eine elend lange Nacht vor sich hatte. Die Kommunikation mit dem Krankenhauspersonal stellte sich wie gewöhnlich als schwierig heraus, da sich kaum jemand mit ausreichenden Englischkenntnissen finden liess.

Wir versprachen, die Versicherung mit allen notwendigen Informationen zu versorgen und ihn am nächsten Morgen wieder zu besuchen …

We are there, when you need us

Was uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz klar war, ist die Tatsache, dass man sich hier lediglich medizinisch um ihn kümmern würde. Nachdem seine Hüfte vorübergehend stabilisiert wurde, bedeutete das in seinem Fall lediglich Schmerztherapie. Pflege- und Versorgungsmassnahmen obliegen der Familie des Patienten. Das ging so weit, dass das Krankenhauspersonal am nächsten Morgen nicht einmal mehr bereit war, seine Urinflasche zu leeren. Ich muss sicher nicht ausführen, wie glücklich er war,  uns wiederzusehen …

Da sich die medizinischen Leistungen ohnehin nur auf verschriebene Schmerztabletten beschränkten, entschieden wir, dass er besser mit uns im Hotel aufgehoben sei. Parallel verfolgten wir auf seinen Wunsch hin das Ziel, ihn so schnell wie möglich zurück nach Australien zu fliegen. Es stellte sich heraus, dass es einmal wöchentlich einen Direktflug von Chengdu nach Melbourne gab und dieser bereits am kommenden Abend stattfand. Wir gaben uns also der Illusion hin, mit ausreichend Schmerzmitteln und Krücken seine Flugtauglichkeit für die Business Class herstellen zu könnten. Doch es war wohl eher der Wunsch Vater des Gedanken und wenige Stunden vor Abflug scheiterte dieser Versuch kläglich aufgrund irrsinniger Schmerzen, als David versuchte mit Hilfe der Krücken ein paar Schritte vorwärts zu machen. Wir sassen also erst einmal fest. Dennoch verbrachte David die kommenden zwei Nächte mit uns im Hotel, was seiner Stimmung deutlich zuträglich war, bedenkt man, unter welchen Umständen er die erste Nacht im West China Hospital verbrachte. Dann jedoch wollte die Versicherung ihn wieder im Krankenhaus sehen, wo er dieses Mal allerdings angemessener untergebracht war.

Wir sind gewöhnlich schnell dabei, unsere eigenen Sozialsysteme zu kritisieren und es mag dafür auch gute Gründe geben. Doch in unserer Gesellschaft wird heutzutage vieles als gegeben angesehen, so dass wir kaum noch wahrnehmen, wie grossartig das bereitgestellte Leistungsspektrum tatsächlich ist. Gerät man dagegen einmal in eine ernsthafte Situation ausserhalb des eigenen Komfortbereiches und ohne die Möglichkeit auf einen Freifahrtschein nach Hause, wird man vielleicht trotz aller Probleme und Unzulänglichkeiten der eigenen Systeme wieder anfangen, die Errungenschaften seiner Gesellschaft zu wertschätzen.

Die Tage verstrichen und unsere Kommunikation mit David’s Versicherung würde sich blendend fuer eine Fallstudie eignen. Dabei hatte seine Versicherung so ein vielversprechendes Motte: “We are there when you need us”. Die Wirklichkeit sah dann wohl doch ein klein wenig anders aus und obwohl wir noch am Tag des Unfalls alle Unterlagen zusammenstellten und entsprechende Fragebögen komplettierten, waren Hoffnung und Verzweiflung stetige Gefährten auf einer siebentägigen emotionalen Achterbahnfahrt. Nachdem David eine Woche mit gebrochenen Hüfte ans Bett gebunden war, zeigte sich endlich Licht am Ende des Tunnels. Ein kleines Rettungsflugzeug holte ihn in Chengdu ab und flog ihn nach Bangkok, wo alles vorbereitet war und die dringend notwendige OP sofort nach Ankunft durchgeführt wurde. Jeder von uns hat wohl innerhalb dieser Woche seine eigene Versicherungspolice mit Blick auf einen möglichen Reiseruecktransport geprüft. David ist mittlerweile wieder in Australien und auf dem Wege der Besserung.

Am Tag des Unfalls ging jedoch noch mehr zu Bruch. Auch mein Telefon und mein Notebook wurden im Rahmen der Ereignisse dieses Tages so stark beschädigt, dass es zum Totalausfall mit Datenverlust kam. Doch so sehr die aktuellen Geschehnisse auch auf unsere Stimmung drückten – wir zählten nach wie vor zu den Glücklichen. Wir mussten es nur sehen wollen! Einen Tag nach dem Unfall erfuhren wir, dass eine der Brücken, welche wir überquerten, nur wenige Stunden nach uns einstürzte. Sechs Autos sowie deren Insassen wurden von den Fluten mitgerissen. Der Vorfall war in allen News.

Durch den Verlustes von Notebook und Daten gab es in den vergangenen Wochen wenig zu berichten. Mein Notebook ging nun auf seine eigene Reise und flog nach Hongkong, von wo aus mein Bruder es mit nach Deutschland nahm. Ob da noch was zu retten ist, wird sich zeigen. Eine SSD (Solid-State-Drive) ist zwar wesentlich unempfindlicher als eine konventionelle Festplatte, doch musste ich auch feststellen, dass bisher kaum jemand in der Lage ist, bei einem Schaden die Daten auszulesen.

Dabei gäbe es noch so manches zu berichten: In Kirgistan wurden Maschinengewehre auf Kim und mich gerichtet. Auf 3.000 Metern gerieten wir in einen heftigen Eisregen und verbrachten die Nacht in nomadischen Jurten. Wir entgingen nur knapp einem katastrophalen Crash in den Bergen und auf meinem Weg zur chinesischen Grenze wurde die Landschaft durch einen Schneesturm neu definiert. In China durchquerten wir die Taklamakan Wüste und ich musste feststellen, dass chinesische Hühnchengerichte so gar nicht zu meinen Favoriten gehören.

Doch dazu mehr, wenn sicher ist, dass sich ein paar der verlorenen Daten retten liessen …